Rückenschonendes Heben? Schlau oder Blödsinn?
Die übliche Weisheit ist, dass wir uns nicht bücken dürfen, um schwere Gewichte zu heben. Um Verletzungen zu vermeiden, sollten wir uns hocken und dann mit den Beinen anheben, nicht mit dem Rücken. Etwa 75% der Physiotherapeuten glauben dies,1 und die Zahl ist außerhalb dieser Berufsgruppe wahrscheinlich noch höher.
Dein Rücken ist nicht zerbrechlich und du weißt bereits, wie du Dinge hebst
Viele Aktivitäten sind bei weitem nicht so gefährlich, wie sie scheinen. Ein Cirque du Soleil-Akrobat zu sein, ist zum Beispiel überraschend sicher, mit einer Verletzungsrate, die niedriger ist als bei vielen anderen Sportarten. 2 Die Intuition der Menschen versagt oft in der Bewegungsapparat- und Sportmedizin. Eines der besten Beispiele woran dies erkennbar ist, ist das Rückenschmerzen überraschend wenig mit strukturellen, anatomischen Problemen wie Degeneration und Verletzungen wie Bandscheibenvorfällen, Muskelverspannungen, eingeklemmten Nerven, usw. zu tun hat. Obwohl diese Dinge passieren, sind sie nicht so häufig oder unweigerlich schmerzhaft, wie es sich die meisten Menschen vorstellen.
Obwohl wir schwere Dinge nicht auf irgendeine Weise heben können, müssen wir auch nicht wirklich unterrichtet werden. Was am wichtigsten ist, ist so offensichtlich, dass es schwierig ist, etwas falsch zu machen: halte die Gegenstände nahe am Körper und hebe sie nicht in unangenehmen Haltungen oder Positionen.
Einfaches Bücken ist jedoch keine unangenehme Haltung. Solange wir diese ziemlich offensichtliche Sicherheitsgründe abdecken, können wir nicht viel tun, um sie zu verbessern, und insbesondere haben weder Bücken noch Hocken einen offensichtlichen Sicherheitsvorteil gegenüber dem anderen.
Es gibt keine Evidenz die den Einsatz von Ratschlägen oder (Rücken)-Schulungen in Hebe- oder Arbeitstechniken zur Vorbeugung von Rückenschmerzen unterstützen. 3, 4, 5 Die Ergebnisse aus verschiedenen Studien stellen die derzeit weit verbreitete Praxis der Rückenschule in Frage.
Wahrscheinlich funktioniert es nicht Menschen zu trainieren, um „richtig“ zu heben, weil der Rücken unglaublich belastbar und stark ist und weil Rückenschmerzen nicht allzu sehr durch die Hebetechnik beeinflusst oder verursacht werden. Die konventionelle Weisheit basiert auf der Annahme einer Fragilität, die gar nicht vorhanden ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Training einer richtigen Hebe- oder Arbeitstechnik zur Vorbeugung von Rückenschmerzen/-problemen keinen großen Unterschied macht.
Erhöht schweres Heben das Risiko von Rückenschmerzen?
Um diese Frage zu beantworten haben wir uns die Literatur nochmal ganz genau angeschaut und können diese Frage mit einem ganz eindeutigen „NEIN!“ beantworten. 6, 7, 8
Wenn das Gewicht aber egal ist, wie wäre es dann mit der Zeit, die man damit verbringt, sich zu bücken? Eine Studie zu dieser Thematik aus dem Jahr 2015, in der 198 Arbeiter untersucht wurden, fand keinen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Rückenbeugung und der höheren Schmerzintensität. Diese Studie bewies das Gegenteil: mehr Zeit für das Beugen über 30 Grad wurde mit einer geringeren Intensität d er Rückenschmerzen in Verbindung gebracht.9
Dies bedeutet nicht, dass eine Person jemals seinen Rücken verletzten wird, indem er etwas anhebt, jedoch ist die Verbindung bei weitem nicht so offensichtlich wie jeder annimmt.
Wird die Wirbelsäule durch das Bücken stärker belastet?
Es ist fast unmöglich die Wirbelsäule nicht zu beugen, wenn du etwas vom Boden abhebst und es gibt bemerkenswert wenig Unterschied zwischen der Belastung der Wirbelsäule bei verschiedenen Hebetechniken. Selbst bei einem reinen Squat (Kniebeugung) entsteht bis zur 40% der Wirbelsäulenbeugung 10, obwohl das für die meisten Menschen als die theoretisch ideale Hebetechnik gesehen wird.
Was wäre, wenn wir die Wirbelsäulenkräfte direkt messen könnten? Stelle dir hierzu einen Druckmesser vor, der in deinen Rücken implantiert ist und einen deiner Wirbel vollständig ersetzt. Was würde es dir sagen, wenn du dich beugst, um ein Objekt aufzunehmen, anstatt dich zu hocken und mit den Beinen statt mit dem Rücken zu heben? Die beinahe universelle Annahme ist, dass das Bücken die Wirbelsäule mehr belastet.
Wenn das aber eine sichere Annahme wäre, würden wir es hier nicht ansprechen. Wissenschaftler haben nämlich festgestellt, dass es tatsächlich keinen großen Unterschied gibt. Diese Druckmesser bestehen tatsächlich, sie werden „Instrumented Vertebral Body Replacements“ (VBR) genannt und sind High-Tech Geräte, die anstelle eines Wirbels installiert werden. In einem Experiment von 2016 führten drei Patienten mit VBRs eine Reihe von Hebevorgängen durch und ihre Implantate maßen die Kräfte in Kniebeugen gegenüber Bücken. Der Unterschied war bedeutungslos! Das Hocken ist die angeblich die „richtige“ und sicherste Methode um Gegenstände zu heben, verursacht jedoch nur eine 4% geringere Belastung des Gewebes. 12
Was ist mit Rückenstützen und Stützgurten?
Niemand hebt mehr Gewicht als Gewichtheber! Und Gewichtheber müssen aus irgendeinem Grund diese dicken Gürtel tragen! Wenn es für sie Sinn macht, muss es auch für das berufliche Heben Sinn machen. Oder?
Die einzige Funktion die Gewichtgurte haben, ist eine Erhöhung des Bauchraumdruck. Dieses unterstützt die Wirbelsäule an der Vorderseite, was es wiederum ermöglicht, schwerere Lasten zu heben. Zur Prävention von Rückenbeschwerden haben Gewichtsgurte keinen Mehrwert. Im Gegenteil, es bestehen Studien die beweisen, dass die Verwendung von Gewichtgurten die Verletzungsrate der Lendenwirbelsäule bei Gewichthebern erhöht. Dies lässt sich auch gut erklären, weil es bei solchen Belastungen nur einen haarsträubenden Unterschied gibt zwischen dem, was getan werden kann und dem, was getan werden kann, ohne sich selbst zu verletzen.
Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass solche Gurte am Arbeitsplatz kaum oder gar keinen präventiven Nutzen haben. 13, 14
Eine weitere Lehre aus dem Kraftdreikampf
Kreuzheben sieht nicht aus der Ferne aus wie eine „sichere“ Möglichkeit, einen schwereren Gegenstand mit dem Rücken zu heben. Und doch zeigt der Kraftdreikampf-Sport, dass Kreuzheben ohne offensichtliche Anfälligkeit für Rückschmerzen regelmäßig durchgeführt werden kann. Die Sportler beim Kraftdreikampf bücken sich und nehmen viel mehr Gewicht auf, als irgendjemand jemals bei der Arbeit haben wird. Zum Spaß. Mit weniger Verletzungen, als bei anderen Sportarten! 15
Wie bereits erwähnt, ist es fast unmöglich, die Wirbelsäule nicht zu beugen, wenn du etwas vom Boden abhebst. 10 Die meisten Kreuzheben ähneln auffallend der Art und Weise, wie Menschen nicht heben sollen und dennoch ist der Sport erstaunlich sicher.
Abgesehen von der Tatsache, dass wir wissen, dass schwere Gewichte das Risiko von Rückenschmerzen nicht erhöhen und dass die Beugung der Wirbelsäule die Belastung nicht erhöht, wissen wir auch, dass sich unsere Bandscheiben anpassen können.
Wenn du heute versuchst, 430 kg mit dem gleichen Maß an Wirbelsäulenbeugung zu heben wie Konstantin Konstantinovs hier unten zeigt, besteht eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass du an einer Bandscheibenverletzung erleidest (oder zumindest einige akute degenerative Veränderungen verursachst). Die Bandscheiben von Kontantin haben sich jedoch im Laufe seiner Trainingskarriere wahrscheinlich verstärkt.
Die Erforschung dieser Frage steckt noch in den Kinderschuhen. Bisher scheint sich jedoch die Art der zu erwartenden Dosis-Wirkungs-Beziehung zu zeigen: einige lastbedingte Belastungen der Bandscheiben können diese stärken und regenerieren, aber zu viele lastbedingte Belastungen können unter Umständen zu degenerativen Veränderungen führen. 16
Es ist also weder schlau noch zu empfehlen, wenn du als eine ungeübte Person versuchst, große Lasten willkürlich zu heben. Die Technik ist wichtig, wenn du versuchst, mehrere hundert Kilos hochzuheben. Es ist aber eine ganz andere Sache, als in einem Lagerhaus schwere Gewichte herumzuschleppen. Die Bandbreite dessen, was überraschend sicher möglich ist, ist einfach riesig. Wenn der Rücken beim Heben von 20 bis 40 Kilogramm mit schlechter Technik oder Training tatsächlich zu Verletzungen neigte, ist es unwahrscheinlich, dass Menschen dies beim Kreuzheben ohne Probleme mit dem 3- bis 10-fachen multiplizieren könnten. Aber sie tun es eindeutig, selbst bei unvollkommener Eliminierung der Beugung.
Der Punkt ist, dass unser Rücken von Natur aus robust und nicht zerbrechlich ist. Ein großartiger Beweis für die Robustheit unseres Rückens ist der Kraftdreikampf. Brian Shaw (Amerikanischer Profi-Strongman und Gewinner der 2011, 2013, 2015 und 2016 World’s Strongest Man) zeigt und gerne ein Beispiel:
Mach dir keine Sorgen darüber, wie du hebst… aber sei auch kein Dummkopf
Offensichtlich kann man sich verletzen, wenn man mit schweren Lasten rücksichtlos umgeht. Natürlich spielt die Technik bei extremen Belastungen auch eine wichtige Rolle (die Art von Belastungen, mit denen niemand bei der Arbeit zu kämpfen hat).
Das Training für die Hebetechnik im Arbeitsbereich ist wahrscheinlich nicht relevant, weil schweres Heben selbst das Risiko von Rückenschmerzen nicht wesentlich erhöht. Es gibt somit kein Problem, welches mit einer besseren Technik gelöst werden kann und auch keinen Hinweis darauf, dass es überhaupt einen Weg gibt unsere Technik deutlich zu verbessern. Zweifellos ist schweres Heben zumindest ein kleiner Faktor bei Rückenschmerzen, aber kein wichtiger Faktor und auch nicht die Art von Faktor, die ein schönes, klares, statistisches Signal erzeugt.
Rückenschmerzen, die mit einem Hebe-Trauma beginnen, treten seltener auf als die meisten Menschen denken und sind auch nicht so schwerwiegend.
Quellenangabe:
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